Kino: „Giraffe“

Wer auf die dänische Insel Lolland will braucht viel Geduld: Fast eine Stunde braucht die Fähre aus Deutschland, Ein- und Aussteigen nicht mitgerechnet. Wenn es nach der dänischen Regierung geht, soll sich das bald ändern: Ein Tunnel soll die Überquerung in schlappen 7 Minuten möglich machen. Auch sonst hat man es in Kopenhagen eilig: Obwohl in Deutschland noch keine Baugenehmigung vorliegt, fing man auf Lolland schon mal an, Menschen zu evakuieren um Platz für die Straße zu schaffen.

Dieses absurde Bauprojekt bildet den Hintergrund für „Giraffe“, den zweiten Spielfilm von Anna Sofie Hartmann. Mit seinen sehr langen, ruhigen Einstellungen und dem Verzicht auf jegliche Musik, kann er auch als Plädoyer für die Entschleunigung gesehen werden. Er erzählt von der Ethonologin Dara (Lisa Loven Kongsli), die nach Lolland kommt, um eine Bestandsaufnahme der Häuser zu machen, welche dem Tunnel weichen sollen. Dabei beginnt sie eine Affaire mit dem jungen polnischen Bauarbeiter Lucek (Jakub Gierszał), obwohl sie eigentlich in einer Beziehung ist.

Spannend: Außer den beiden Hauptdarstellern sind alle Personen in dem Film Laien, die sich in improvisierten Szenen selbst spielen. So überschreitet der Film oft auch die Grenze zur Dokumentation und erzählt uns authentisch aus dem Leben der Menschen auf Lolland.

Und die Giraffe? Die kommt diesem Film auch vor. Ganz am Anfang schaut eine in die Kamera. Danach ist keine mehr dabei. Leider.

WERTUNG: 4

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Kino: „Eine größere Welt“

Als wir Corine (Cécile de France) zum ersten Mal begegnen tollt sie fröhlich mit ihrem Mann Paul (Jeremy Alonzi) im Bett herum. Doch bereits in diesen ersten Bildern wirkt das weiß der Laken zu makellos, die Szene bei aller Intimität zu abstrakt um wahr zu sein. Und prompt erwacht Corine dann auch allein. Ihr langjähriger Partner ist verstorben und sie blieb mit jeder Menge Traurigkeit zurück. Weder ihre fürsorgliche Schwester Louise (Ludivine Sagnier) noch die Arbeit als Tontechnikerin können ihr helfen. Alles was sie will ist weg. Weit weg. Also nimmt sie den extremsten Auftrag an, den sie finden kann: Für einen Dokumentarfilm Geräusche und Gesänge der Nomaden in der mongolischen Steppe aufzunehmen.

Dort wird sie freundlich empfangen – doch als sie das erste Mal ihr Mikrofon auf die Ritual-Gesänge der Schamanin Oyun (Tserendarizav Dashnyam) richtet, passiert etwas unerwartetes: Corine fällt selbst in Trance und hat eine Vision. Für die Mongolen ein klarer Fall – Corine ist eine Schamanin und von den Geistern auserwählt. Ihre Schwester hat einen anderen Verdacht: Vielleicht stimmt etwas mit ihrem Gehirn nicht. Corine begibt sich auf eine dreifache Reise – in die Welt der Geister, in ihr eigenes Inneres und zurück in die Steppe – um die Wahrheit herauszufinden…

Mit ihrem Film „Eine größere Welt“ hat Regisseurin Fabienne Berthaud in Frankreich bereits einen Publikumshit gelandet. Kein Wunder, denn über weite Strecken gelingt dem Film die Balance zwischen Magie und Alltag ganz hervorragend. Besonders die Art, wie sich der Zauber über die Tonspur einschleicht (immerhin ist das hier ein Film über eine Tontechnikerin) ist bemerkenswert. Auch sonst spürt man in jeder Szene die Liebe und das Engagement, das alle Beteiligten in diese Produktion steckten. Über ein Monat wurde vor Ort in der Mongolei gedreht. Ohne Strom und Internet oder auch nur fließend Wasser. Dafür aber mit nomadischen Laienschauspielern und hunderten von Rentieren. Mit Cécile de France hat sie dabei eine Hauptdarstellerin gefunden, die sich ebenso mutig in das Abenteuer stürzt, wie die von ihr verkörperte Figur. Die übrigens ein reales Vorbild hat: Die echte Corine Sombrun lebte viele Jahre bei den mongolischen Nomaden und war die erste Europäerin, die in den Trance-Techniken der Schamanen unterrichtet wurde. Ihre spezifische Mischung aus direktem Erleben und wissenschaftlicher Distanz prägt auch den Film, der das Nomadenleben nie zum Idyll verkitscht, sondern immer auch als Projektionsfläche für westliche Sehnsüchte zeigt.

WERTUNG: 2

Kino: „Sunburned“

Zwischen Kindheit und Erwachsensein gibt es ein seltsames Niemandsland. Einen traumhaften Schwebezustand, der leicht auch in einen Alptraum kippen kann. Die 13-jährige Claire (Zita Gaier) verbringt diese Zeit mit ihrer Mutter und ihrer großen Schwester in einer spanischen Touristenburg. In diesem bedrückenden Beton-Gefängnis braucht es schon einen Animateur, der den Gästen sagt: „Ihr seid im Paradies. Tanzt jetzt.“

So pendelt Claire zwischen Pool, Disco und Strand – bis sie eines Tages Amram (Gedion Oduor Wekesa) kennenlernt. Der Junge aus dem Senegal verkauft bunte Ketten an junge Mädchen und sich selbst an ältere Damen und Herren. Wie Claire leidet auch er unter der Abwesenheit seines Vaters. Zwischen den beiden kommt es zu einer vorsichtigen Annäherung…

„Sunburned“ kommt ohne große äußere Handlung aus: Tanzen. Starren. Ab und zu träumen. In ruhigen Einstellungen, schön gefilmt von Kameramann Wojciech Staroń, folgen wir Claire auf ihrem schlafwandlerischen Weg hin zu mehr Selbständigkeit. Regisseurin Carolina Hellsgård gelingt es dabei sehr gut das Ungreifbare dieser Übergangssituation erlebbar zu machen. Und – obwohl sie strikt aus Claires Perspektive erzählt – dennoch immer wieder Blicke in die knallharte Realität zu werfen, die knapp unter der Oberfläche des Touristen-Paradieses liegt. Etwa wenn ganz selbstverständlich die Putzfrau beschuldigt und ins Verhör genommen wird, als plötzlich Wertgegenstände fehlen.

WERTUNG: 3

Das Nürnberger Casablanca-Kino zeigt „Sunburned“ am Freitag um 20.20 Uhr im Doppelpack mit Hellsgårds erstem Spielfilm „Endzeit“. Dazwischen gibt es ein Video-Gespräch mit der Regisseurin.

Kino: „Die Kandidaten“

„Wahlkampf ist ein Knochenjob“ – Der Fürther Regisseur Michael Schwarz stellte seinen Dokumentarfilm „Die Kandidaten“ im Babylon vor.

Wie passend: In den 80er Jahren sah Michael Schwarz im Fürther Babylon Kino seinen ersten Film. Nun kehrt er als Regisseur in seine Heimatstadt zurück, um seinen ersten eigenen Kino-Dokumentarfilm zu präsentieren. „Die Kandidaten“ porträtiert sechs rheinländische Jung-Politiker, die sich 2017 für den Bundestag bewarben und begleitet sie beim Klinkenputzen, Plakate-Kleben und Reden halten.
„Man hört viel von Politikverdrossenheit“, erzählt Schwarz. „Deswegen wollte ich herausfinden, was gerade junge Menschen dazu bringt, sich für eine Partei zu engagieren – auch wenn sie selbst nicht wirklich Chancen haben ihr Direkt-Mandat zu erringen.“
Wie etwa der erst 19-jährige Max Keck, der für die Linke antritt oder die Studentin Misbah Kahn, die im GRÜNEN-T-Shirt geduldig auf der Straße steht um Radfahrern Flickzeug mit Parteiwerbung anzubieten.

Dabei war es Schwarz wichtig, das ganze politische Spektrum abzubilden: „Wir haben uns vor dem Start natürlich überlegt, ob wir die AfD mit reinehmen“, sagt Schwarz, der selbst nicht mit den Zielen dieser Partei übereinstimmt. „Aber sie spielt jetzt eine Rolle, deswegen wollten wir sie weder auslassen, noch übermäßig in den Mittelpunkt stellen.“
Und tatsächlich gelingt im das Kunststück alle Kandidaten sehr fair und neutral darzustellen. Was auch daran liegt, dass in dem Film nicht die politischen Inhalte im Mittelpunkt stehen, sondern die konkrete Arbeit im Wahlkampf: „Ich wusste schon vorher, dass das ein Knochenjob ist“, meint Schwarz. „Aber jetzt habe ich noch größeren Respekt vor dieser Arbeit. Manche dieser jungen Leute machen bis zu 20 Termine am Tag – und das alles in ihrer Freizeit!“
Dabei legten Schwarz und sein Team einen ähnlichen Enthusiasmus an den Tag wie die Jungpolitiker: 80 Stunden Material wurden gedreht, 8 Monate lang geschnitten. Dann wurde der Film in eigener Regie in die Kinos gebracht – ohne Verleih: „Wir haben mit jedem Kino einzeln telefoniert und gefragt, ob wir ihn zeigen können. Reich wird man dabei nicht!“ Aber man erlebt einiges – so wurde Michael Schwarz sogar nach Indien eingeladen: „Das Kolkata International Film Festival – das drittgrößte Asiens – machte ein Programm mit deutschen Filmen und wollte unseren dabei haben, also durfte ich eine Woche in Kalkutta sein! Das war schon wunderbar!“

WERTUNG: 2

Kino: „Für Sama“

Kinder brauchen einen Platz zu spielen. Für die Kinder im Süden der umkämpften Stadt Aleppo ist das ein ausgebombter Bus, der von ihnen und den Eltern liebevoll bemalt wird – während ein paar Meter weiter schon wieder neue Granaten ihr Zerstörungswerk anrichten.

Oder da ist der Baum, den Arzt Hamza in seinem Garten pflanzt. Und wieder pflanzt, nachdem er weggebombt wurde. Es sind solche Szenen einer geradezu sturen Menschlichkeit, die Waad al-Kateab’s Dokumentation „Für Sama“ so besonders machen.

Die Studentin der Wirtschaftswissenschaften griff zur Kamera, um die Proteste gegen das Assad-Regime zu dokumentieren – dass daraus ein Langzeit-Film über einen schier endlosen Krieg werden sollte, konnte sie nicht ahnen.

Auch nicht, dass mitten drin ihre Tochter Sama zur Welt kommen und die Eltern vor eine schwere Frage stellen würde: Sollen wir aus Liebe zu unserem Kind die Heimat verlassen – oder sollen wir unsere Mission weiterführen?

Denn Waad und Hamza betreiben ein provisorisches Krankenhaus, dass ein Fels im Meer der Zerstörung wird: 700 Operationen in 20 Tagen sind die Regel. Am Ende werden hier fast 6000 Leute gerettet: „Leider waren es nicht mehr“, bedauert Hamza.

„Für Sama“ ist ein harter Brocken. Waad al-Kateab und ihre Familie rennen mit wackeliger Handkamera durch die Straßen. Blut und Tote sind allgegenwärtig. Wir sehen nicht die ‚heroische‘ Seite des Krieges mit ihren Panzern und Gewehren, wir sehen wie Kinder sterben. „Zeit für Gefühle haben wir nicht“, meint Waad einmal und bittet ihre Tochter damit auch um Verzeihung, sie an diesem unmöglichen Ort aufwachsen zu lassen.

Aus dem Material von vier Jahren montierten Waad al-Kateab und der englische Dokuemtarfilmer Edward Watts diesen eindringlichen Film. Die Komponistin Nainita Desai schuf dazu einen Score, der sich wie eine freundliche Hand auf die Schulter der Protagonistinnen legt.

Der Film ist einerseits ein wichtiges Zeitzeugnis zum Syrienkrieg. Aber er vermittelt darüber hinaus noch eine viel tiefer gehende Botschaft: Er erzählt von der Kraft der Solidarität und davon, wie aus einer Familie eine größere Gemeinschaft erwächst, die im Angesichts des Grauens für das Gute einsteht. Und er weist uns auch auf das große Geschenk hin, dass wir unseren Kindern machen können: Einen dauerhaften Frieden.

WERTUNG: A

Kino: „Der Unsichtbare“

Cecilia (Elisabeth Moss) packt ihre Koffer: Ihr Freund Adrian Griffin (Oliver Jackson-Cohen) ist zwar reich und brilliant – aber auch narzistisch und kontrollsüchtig. Aber der Abbruch der Beziehung hat fatale Folgen: Zwei Wochen später erfährt Cecilia, dass Adrian sich umgebracht hat. Doch trotzdem spürt sie seine Präsenz allenthalben. Ist sie paranoid? Oder hat der geniale Ingenieur seinen Tod nur vorgetäuscht und folgt ihr tatsächlich? Immerhin bastelte er im Keller seiner Villa an seltsamen optischen Geräten…

Der Unsichtbare gehört, wie die der Wolfsmann oder der Schrecken vom Amazonas, zu den klassischen Horror-Figuren an denen das Universal-Studio seit vielen Jahren die Rechte hat – und mit denen es selten etwas sinnvolles anfangen konnte.

„Der Unsichtbare“ von Leigh Whannell, Stammautor der Reihen „Saw“ und „Insidious“, macht da keine Ausnahme.

Zwar schreibt Whannell ein ordentliches Psychodrama mit liebenswerten Charakteren und einigen guten Dialogen – vergeigt aber alles in den grob gestrickten Horror-Szenen.

Denn ganz abgesehen davon, dass ein Unsichtbarer im Zeitalter von Wärmebild-Kameras und Sonar-Geräten nicht wirklich gefährlich ist, ist er auch nicht sehr filmisch: Viel zu oft starren wir zu gruseligem Soundtrack auf leere Räume, bis wir vom nächsten Krach erschreckt werden oder schauen den Darstellern dabei zu, wie sie mit Luft kämpfen. Was immerhin ab und zu unfreiwillig komisch ist. Vermutlich hätte dem 2-Stunden-Epos auch eine ordentliche Kürzung nicht geschadet. Fazit: Den Unsichtbaren muss man nicht sehen.

WERTUNG: 4

Kino: „Das geheime Leben der Bäume“

Der Förster und Hobby-Autor Peter Wohlleben hatte bereits 15 Bücher über den Wald geschrieben, als ihn „Das geheime Leben der Bäume“ im Jahr 2015 quasi über Nacht zum Star-Autor machte. Seine Kernthese: Bäume sind schlauer als wir denken. Sie kommunizieren und formen Sozialverbände, die einander in schwierigen Situationen beistehen. Zugleich übte er Kritik an einer Gesellschaft, die Bäume als schnelle Holzlieferanten fabrikmäßig züchtet. Für viele Forstwirtschaftler wurde er dadurch zum Buhmann – er selbst sieht sich aber eher als „Übersetzer“ zwischen den Welten der Wissenschaft, der Wälder und der Allgemeinheit.

Nun machten sich gleich zwei preisgekrönte Dokumentarfilmer daran, sein Buch und sein Leben als Film umzusetzen. Jan Haft („Die Wiese“) zeigt hypnotische Zeitraffer- und Nahaufnahmen von Pflanzen und Tieren, während Jörg Adolph („Erwachsenenschule“) den Autor zwei Jahre begleitete: Bei Wald-Seminaren in der heimischen Eifel, bei Talkshows oder Signierstunden.

Da steht banales (Seminarräume vorbereiten) neben berührendem (Audienz beim ältesten Baum der Welt) – und oft knirscht es bei den Übergängen von einem zum anderen. Was aber auch wieder passt für einen Film, der durchaus ein Spreißel im Getriebe einer gut geölten Wald-Nutzung-Maschinerie sein will.

WERTUNG: 3

Kino: „Crescendo“

Kann die Kraft der Musik uns helfen, Konflikte beizulegen?
Diese Frage stellte sich Pianist Daniel Barenboim, als er 1999 das Orchester „Ost-Westlicher Diwan“ gründete, das zu gleichen Teilen aus Palästinensern und Israelis besteht und das als Inspiration für den Film „Crescendo“ diente.

Hier ist es die Bankerin Carla (Bibliana Beglau), die den bekannten Dirigenten Eduard Sporck (Peter Simonischek) für ein ehrgeiziges Projekt gewinnt: Im Rahmen einer Friedenskonferenz in Südtirol soll ein Kammerorchester aus Jugendlichen aus Israel und Palästina spielen. Doch die Probleme beginnen schon beim Casting: Die Israelis können ungehindert vorspielen, während die Palästinenser noch in der Grenzkontrollle hängen. Zudem sind die musikalischen Fähigkeiten ungleich verteilt – es gibt einfach nicht genug talentierte Palästinenser für eine paritätische Aufteilung. „Ich habe jüdische Freunde, die arabisch aussehen“, bietet Geiger Ron (Daniel Donskoy) eine Scheinlösung an. Damit schafft er sich gleich eine erbitterte Feindin in Layla (Sabrina Amali) von der West Bank, die ebenfalls Geige spielt.

Als die Gruppe sich ins Tiroler Bergidyll zurückzieht eskalieren die Konflikte und die Proben werden immer mehr zu Therapiesitzungen. Und als wäre die Situation nicht schwierig genug muss sich Sporck auch noch mit dem Erbe seiner eigenen Vergangenheit herumschlagen. Das „Make Music not War“-Vorzeigeprojekt droht ins Gegenteil zu kippen…

TV-Regisseur Dror Zahavi, vor allem bekannt durch seine Tator-Folgen – hat sich hier viel vorgenommen: Im Mikrokosmos des Orchesters sollen komplexe Zusammenhänge auf einen überschaubaren Rahmen verdichtet werden.
Das ergibt ein paar ergreifende Szenen, wenn die Teilnehmer sich ihrer Vergangenheit und ihren Gefühlen stellen und erschreckt erkennen, dass die andere Seite ganz ähnlich empfindet.

Leider wird das alles übertrieben manieriert in Szene gesetzt: Wuchtige Kamerafahrten, gewollte Unschärfen und Überbelichtungen lenken von den Charakteren ab.
Zudem empfihelt es sich polyglott zu sein: 80% des Films sind auf Englisch. Der Rest verteilt sich auf Hebräisch, Arabisch und Deutsch. Das meiste versteht man aber sogar ohne Untertitel: Die Konflikte sind plakativ, die Charaktere simpel gestrickt („Der Sensible“, „Die Mutige“). Die Dialoge, die man versteht, sind ungelenk und ohne Subtext: Jeder spricht 1:1 aus, was er sich denkt.

Mit dieser Schlichtheit eignet sich „Crescendo“ sicher gut als Diskussionsgrundlage für Schulvorstellungen oder Nahost-Themenabende. Als pures Kinoerlebnis dagegen scheitert er. “

Das war gut gemeint“, sagt der Dirigent am Ende. „Aber gut gemeint reicht nicht“.

Exakt.

WERTUNG: 5

Kino: „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“

Mit Intelligenz und Liebe gegen das Grauen: Oscarpreisträgerin Caroline Link adaptierte Judith Kerrs Autobiografie „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ als optimistische Familiengeschichte.

Berlin, 1933. In der Weimarer Republik stehen Reichstagswahlen an und der scharfe Wind, der von rechts weht, ist in der intellektuellen Szene der Hauptstadt schon deutlich zu spüren. Der bekannte jüdische Journalist Arthur Kemper (Oliver Masucci) hält noch einmal eine flammende Rundfunk-Rede gegen die Nazis – und packt dann seine Koffer. Denn wenn die NSDAP regiert, muss er fürchten, dass noch mehr brennen wird, als die von ihm geschriebenen Bücher: „Wenn Sie verlieren komme ich sofort zurück“, verspricht er seiner Frau (Carla Juri) und den beiden Kindern Max (Marinus Hohmann) und Anna (Riva Krymalowski).

Ein paar Wochen später packen auch diese drei ihre Sachen und lassen alles zurück: Ihr Reihenhaus, ihre wertvollen handsignierten Erstausgaben, ihre Haushälterin (Ursula Werner) und Annas rosa Stoffkaninchen. Die neunjährige kann die Aufregung gar nicht verstehen: Die Nazis kennt sie vor allem in Form der Hitlerjungen, die immer wieder Prügeleien anzetteln. Aber mit denen wird ihr großer Bruder doch fertig. Und religiös ist ihre Familie ja auch nicht: „Wir sind doch Sozialisten“.

Mit der Abreise beginnt auch ein sozialer Abstieg von der oberen Mittelklasse in die Armut: Kemper ist kein Einstein oder Mann, dass ihm die Welt alle Türen öffnen würde – aber doch bekannt genug, dass viele die neutral bleiben wollen scheuen, dem offenen Nazi-Kritiker Arbeit zu geben. Auch die Mutter muss ihre Karriere als Musikerin für die Rolle hinterm Topf aufgeben. Und für die Kinder heißt es, sich immer wieder in neue Orte, neue Sprachen, neue Sitten einzufinden auf dieser Suche nach einer neuen Heimat…

„Ein Buch, vor dem man keine Angst haben muss“, soll Judith Kerr ihren autobiografischen Roman „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ einmal genannt haben. Und tatsächlich: Im Vergleich zu anderen Kinder-Geschichten aus der Nazizeit, wie Anne Franks Tagebüchern oder der Uri Orlevs „Insel in der Vogelstraße“ ist ihre von einem großen Optimismus (und womöglich einer guten Portion nachträglicher Verklärung) getragen: Ein Loblied auf eine Familie, die es schafft in Zeiten großer äußerer Bedrohung mit viel Intelligenz und Liebe zu überleben.

Kurz nach seinem Erscheinen in den 70ern wurde der Roman schon einmal fürs Fernsehen adaptiert. Nun nahm sich mit Oscar-Preisträgerin Caroline Link („Nirgendwo in Afrika“) eine der profiliertesten deutschen Regisseurinnen des Stoffes an. Sie fährt Kerrs Verklärung der Eltern etwas zurück und bürstet den Film visuell gegen den Strich: Kein Hitler, keine gelben Sterne, keine hochgereckten Arme. Die Nazis kommen nur als Schulhof-Rabauken und grummelige Nachbarn vor. Das macht den Film zu einem Balance-Akt auf dem schmalen Grad zwischen Ent-Dämonsieriung und Verharmlosung. Ein Experiment, dass dank der präzisen Regie und der mit viel Hingabe agierenden Darsteller gut gelingt: Selbst im Schweizer Alpenidyll bleibt die Bedrohung indirekt präsent. Und dadurch, dass die Nazis nie ins Bild kommen, kann man den Film über weite Strecken auch losgelöst vom historischen Kontext betrachten: Als Geschichte einer Flucht vor Tyrannei oder als Loblied auf eine Familie, die versucht, sich ihren Humor und ihre Kultur auch in Zeiten bitterer Armut zu bewahren.

WERTUNG: 2

Kino: „PJ Harvey – A dog called Money“

Wie ein Kunstwerk entsteht: Der Dokumentarfilm „A dog called money“ begleitet die Musikerin PJ Harvey bei Vorbereitung und Aufnahmen ihres Albums „The Hope Six Demolition Project“.

Seit etwa zehn Jahren arbeitet die britische Sängerin und Songschreiberin Polly Jean Harvey immer wieder mit dem irischen Filmemacher und Fotografen Seamus Murphy zusammen. Sie schrieb Songs zu seinen Bildern, er drehte Musikvideos zu ihren Liedern und gemeinsam veröffentlichten sie auch einen Bildband mit Photos und Gedichten.

In „A dog called money“ unter der Regie von Murphy geben die beiden nun Einblicke in ihren Schaffensprozess. Wir sehen wie sie auf der Suche nach Inspiration an unterschiedliche Orte fahren: In die überfüllten Städte Afghanistans, in den entvölkerten Nachkriegs-Kosovo und nach Washington DC.

Wir hören die Klänge, die sie sammelt und die Notizen, die sie sich macht. Kleine, akkurate Beobachtungen, wie die Form eines Schlüssels. Aber auch, dass in Washington die U-Bahn-Stationen so platziert sind, dass die Schwarzen aus den ärmeren Vierteln möglichst selten zu den Zentren der Macht auf der anderen Seite des Flusses fahren können.

Schließlich werden all diese Eindrücke zurück in England in (verdammt großartige) Musik umgearbeitet. Dass dies in einem ‚gläsernen‘ Studio geschieht, in das die Leute hineingucken können wie in ein Aquarium, erweist sich als unnötiger Schörkel ohne Erkenntnisgewinn für uns Zuschauer, weil wir nicht wissen welchen Einfluss das auf die Musik hatte.

Sehr schön ist dagegen, wie der Film den möglichen Vorwurf von „Elends-Tourismus“ westlicher Popstars kontert, indem er zeigt, wie PJ Harvey zumindest den Schwarzen in Washington etwas zurückgibt – in Form eines Songs, den diese als Protesthymne für den Erhalt ihres Viertels verwenden können. Sehens- und hörenswert!

WERTUNG 2